Nubische Architektur

Nubische Architektur

Bauhistorische und ethnologische Dokumentation und Erforschung am Beispiel der Dörfer auf der Insel Biǧǧe

Text: Dr.-Ing. Bernadeta Schäfer

 

Panorama Insel Bigge

 

Der Bau und die Erhöhung des Staudammes von Assuan haben bis zum Ende der 1960er Jahre den größten Teil der Zivilarchitektur Nubiens durch Überflutung zerstört. Durch glückliche Fügung haben sich auf der Insel Biǧǧe südlich von Assuan zwei Dörfer mit der Bausubstanz aus der Zeit zwischen 1912-1933 in weitgehend authentischem Zustand erhalten und werden seit 2015 vom Deutschen Archäologischen Institut Kairo und dem Fachgebiet für Bau- und Stadtbaugeschichte der TU Berlin durch ein interdisziplinäres Forschungsteam untersucht.

 

Lage der Insel Biǧǧe im Norden Nubiens und im Reservoir zwischen den beiden Dämmen von Assuan.

 

Ziel ist es am Beispiel der einzigartigen Befundlage auf der Insel die räumlichen Prinzipien und konstruktiven Besonderheiten nubischer Vernakulärarchitektur darzustellen und zu analysieren und damit zur Sicherung eines untergegangenen Kulturgutes beizutragen. Auf der Grundlage der Forschungsergebnisse soll dafür die Architektur der beiden Dörfer in ihrem bewohnten Zustand visuell rekonstruiert werden. Die verlorene, historische Hauslandschaft des ägyptischen Teils Nubiens wird mithilfe von archivalischem Karten- und Bildmaterial in ihrer Mannigfaltigkeit dargestellt.

 

Dekoriertes Hofhaus in einem der Dörfer des „Alten Nubiens“. Foto: A. Goo-Grauer 1964.

 

Die abgeschiedene Welt der nubischen Völker beschäftigte die europäischen Ethnologen bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Den Forschungsschwerpunkt bildeten dabei die Linguistik sowie das immaterielle Leben. Die märchenhafte – heute geradezu mythologisierte Architektur Nubiens erfuhr einiges Interesse erst in den frühen 1960er Jahren, vor allem aufgrund ihrer bemerkenswerten Ornamentik. Bald schon entschwand jedoch der Forschungsgegenstand. Nach der Flutung des Stausees südlich des Hochdamms von Assuan in den Jahren 1964-1976 sind die wenigen, in der Gegend von Assuan liegenden nubischen Dörfer heute die einzigen, deren Bebauung dieses einschneidende Ereignis überstanden hat. Dabei kommt den beiden Dörfern auf der Insel Biǧǧe eine singuläre Bedeutung zu. Während die anderen, „lebendigen“ Siedlungen dem natürlichen, konstanten Wandel unterliegen, wurde auf der Insel ein baulicher Zustand und eine Fülle an Ausstattungsgegenständen erhalten, die ein Zeitfenster in das verlorene „Alte Nubien“ öffnen.

 

Panorama des Dorfes Biǧǧe. Foto: M. Kačičnik 2015.

 

Panorama des Dorfes Balle. Foto: M. Kačičnik 2015.

 

Die Architektur der beiden Dörfer auf Biǧǧe besteht aus insgesamt 29 Gehöften und 22 Wirtschaftsbauten. Wege und Freiflächen zwischen den Häusern, über die gesamte Insel verstreute Anbauflächen, Dreschplätze, Friedhöfe sowie andere gemeinschaftlich genutzte Einrichtungen und Flächen bildeten das räumliche Gerüst des Alltaglebens einer weitgehend isolierten, kleinen Gemeinschaft.

In drei Feldforschungskampagnen wurden seit Herbst 2015 die beiden Dörfer baugeschichtlich und ethnologisch erforscht und dokumentiert. Als Grundlagenmaterial entstand eine Karte der Inseltopografie einschließlich der detaillierten Darstellungen der beiden Dorfstrukturen, 84 Handzeichnungen der Einzelbauten und Gehöfte im Maßstab 1:50 sowie 23 Detailzeichnungen im Maßstab 1:10 bzw. 1:5. Es entstanden über 5.000 Dokumentationsfotos, vorrangig der Architektur, aber auch der Ausstattung sowie 51 Kugelpanoramen, 37 3D-Modelle sowie ca. 50 Handzeichnungen der Gebrauchsgegenstände. Während der Befragungen der ehemaligen Dorfbewohner wurden 160 Tonaufnahmen von einer Gesamtlänge von ca. 80 Stunden generiert sowie über 300 Begriffe für ein Bildlexikon der nubischen Alltagskultur erfasst.

 

 

 

Die architektonische Dokumentation wurde in enger Verzahnung mit den ethnologischen Untersuchungen durchgeführt und deckt die Analyse der architektonischen und künstlerischen Eigenarten als auch das traditionelle Leben ab, wie es bis zum Auszug der Bevölkerung bestand. Dieses umfangreiche Material wird derzeit systematisiert, katalogisiert und ausgewertet. Aus der Verknüpfung und Zusammenführung der Ergebnisse der zwei unterschiedlichen Herangehensweisen: der sachbezogenen bauhistorischen und gesellschaftsorientierten ethnologischen wird ein umfassendes Bild des Lebens einer klar definierten Gruppe in ihrem baulichen und natürlichen Umfeld gezeichnet. Die Untersuchungen werden durch eine systematische ethnoarchäologische Aufarbeitung der Funde, die Untersuchung der Bewirtschaftung der Anbauflächen sowie durch eine botanische Analyse der Inselvegetation ergänzt. Mit den Feldforschungskampagnen auf Biǧǧe sowie der nachfolgenden Bearbeitung in Deutschland wird eine in ihrer Tiefe einzigartige, vielschichtige und umfangreiche Dokumentation der materiellen Zeugnisse der untergegangenen Lebensrealität werden mit modernsten technischen Mitteln erfasst sowie in einer zeitgemäßen Art und Weise festgehalten und archiviert.

Balle. Spielende Kinder – heutige Interviewpartner. Foto: A. Goo-Grauer 1964.

 

Antragsteller: Prof. Dr. Johannes Cramer, Prof. Dr. Stephan Seidlmayer

Projektverantwortlicher: Prof. Dr. Hermann Schlimme

Beteiligte: Dr. Armgard Goo-Grauer (Ethnologie), Mgr.-inż. Marek Barański (Archäologie, Architektur), Dr. Eva Bauer (Botanik), Constanze Bieber (Architekturstudentin), Dipl.-Ing. Christian Hartl-Reiter (Vermessung), Matjaz Kačičnik (Fotografie), Fatma Keshk M.A. (Archäologie), Mohammed Mahrous (Architektur), Julia Nicotra (Architekturstudentin), Mgr.-inż. Wojciech Różewicz (Architektur), Dr.-Ing. Bernadeta Schäfer (Bauforschung, Projektleitung), Olga Schäfer (Architektur, Grafik), Dipl.-Ing. Doris Schäffler (Vermessung), Prof. Dr. Hermann Schlimme (Projektleitung), Juliane Schröder (Architekturstudentin), Oliver Wolter (Architekturstudent), Olga Zenker M.Sc. (Bauforschung).

 

Partnerinstitution: Deutsches Archäologisches Institut Kairo

Finanzierung: Deutsche Forschungsgemeinschaft

Laufzeit: 2017-2019